Der Dreierschritt der Fremdbestimmung

San-Bogenschütze, Foto: Two Roads

Am Beispiel der afrikanischen San (auch !Kung oder Buschmänner genannt), möchte ich Ihnen das Ausmaß unserer Fremdbestimmung verdeutlichen.

Die San leben seit Menschengedenken in der Kalahari, einer Wüste im südlichen Teil Afrikas. Sie gelten in der Wissenschaft als die ältesten Völker überhaupt.

Das Wissen der San über die wilden Tiere in ihrer Umgebung ist mit nichts auf der Welt vergleichbar. Kein Naturforscher kann sich mit ihnen messen, wenn es um das Verständnis der Gewohnheiten und Besonderheiten der Tierwelt geht, das für sie einen Unterschied zwischen Leben und Tod machen kann.

Der Raupen-Tanz Ritual (Caterpillar Dance)

Eines der Tanzrituale der San ist der Raupentanz. Er wird beispielsweise vor einer Jagd getanzt. Westliche Menschen missinterpretieren Rituale matriarchaler Völker, sie sagen “Die Buschmänner beten zu N’go, der Raupe, um ihr Gift zu stärken.”(Quelle)

Fakt ist, dass die San das Gift der Raupen destillieren, es auf ihre Pfeile auftragen und damit das gejagte Wild betäuben, bevor sie es töten. Sie tun das seit Jahrtausenden, es ist ein Alltagsjob wie bei uns Kartoffelschälen. Diese Menschen wissen genau wie stark das Gift ist. Warum sollten sie beten, damit es stark, bzw stärker wird? Das würde einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor in dem komplexen Verarbeitungsprozesses bedeuten.

Manche Forscher behaupten auch, die San würden N’go, die Raupe, “als ihren obersten Gott” verehren. Woraus schließen Forscherinnen das?
Das Wort ‘Gott’ hat eine indogermanische Wurzel und gehört ausschließlich zu unserer historisch geprägten (patriarchalen) Kultur. Dieses Gotteskonzept einfach auf die Sitten uns fremder Kulturen zu übertragen, zeigt mangelndes Einfühlungsvermögen und Unwissenheit.

Ein Ritual dient immer einem bestimmten Zweck, und der ist sehr praktisch: Er bringt die Menschen mit der geistigen Welt in Kontakt.

Wir waren alle schon mal in der Situation, wo wir etwas Gefährliches erfolgreich erledigt haben, z.B. einen schweren Topf mit kochendem Wasser gehoben und woanders wieder abgesetzt haben. Uns ist bewusst, wie gefährlich das ist, besonders, wenn kleine Kinder in der Nähe sind, und wir wollen uns vollständig auf diese Handlung konzentrieren und unter keinen Umständen abgelenkt werden.

Nun, aus dem gleichen Grund findet das Ritual des Raupen-Tanzes statt: die Tänzerinnen empfinden die Raupe nach, das macht die Situation für alle präsent. Es ist wie bei uns eine Feuer-Sirene: sie versetzt uns in Bereitschaft. Beim Raupen-Ritual wird jede Person, jedes Kind veranlasst, sich auf dieses Ereignis, den Umgang mit hochgiftigen Pfeilen, zu konzentrieren, sich die Situation und die Gefahr bewusst zu machen und alle Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Nachdem das Unterfangen geglückt ist, wird gefeiert.

Das gehört zu den Merkmalen jedes Rituals der Stammesgesellschaften; entweder findet es zur Vorbeugung oder als Auflösung von Problemen statt.

Die hohe Energiekonzentration auf die Raupe – für uns nur ein kleines unwichtiges Tier – muss westliche Menschen glauben lassen, dass es sich hier um eine Art “Gottesdienst” handelt, denn das ist unsere Erfahrung von hoher, andächtiger Energiekonzentration. Unsere Priester, die Geistlichen also, sind geübt darin, die Kirchengemeinde in diesen Bewusstseinszustand zu versetzen und die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken. Nur bei uns ist dieses “etwas” abstrakt, eine Idee. Während bei den Naturvölkern hinter jedem Ritual immer etwas sehr Handfestes steckt: konkret, menschlich und jedes Mitglied betreffend.

Deshalb handelt es sich bei uns nicht um Rituale, sondern um Zeremonien. Rituale sehen jedes Mal etwas anders aus, weil sie aus dem Augenblick heraus von allen geschaffen werden. Zeremonien sind sinnentleerte, immer gleiche Handlungsabläufe.

Ein Raupentanz-Ausschnitt:

Auf westliche Augen und Ohren wirkt dieser Tanz eher etwas chaotisch, es ist keine “perfekte Performance” nach unseren Maßstäben – gerade heraus gesagt: es klingt schauerlich.

Aber der Tanz wird ja auch gar nicht für ein außenstehendes Publikum aufgeführt. Es ist ein intimer Moment, eher mit unserem Gesang in der Badewanne zu vergleichen, wo wir uns unbeobachtet glauben. Die San haben neben den “heiligen” Gesängen sehr schöne, auch für uns wohlklingende Lieder.

Diese Menschen tanzen beim Raupen-Tanz-Ritual eine Geschichte, ihre Geschichte. Alle Mitglieder der Gemeinschaft verstehen, worum es geht. Die Tänzerinnen sind dem magischen Augenblick verpflichtet, sich selbst und ihren Schwestern und Brüdern, aber nicht unbeteiligten Zuschauern.

Sie führen ein Drama auf, das mehrere Funktionen erfüllt:

  • es macht auf die bevorstehende Jagd und die damit verbundene (Gift-)Gefahr aufmerksam; die Auf- und Erregung wird geteilt und mitgeteilt
  • es stellt die Tradition der Sippe dar, schafft Gemeinschaftsgefühl
  • es ermöglicht individuellen und spontanen Selbstausdruck (Umgang mit den eigenen Gefühlen)
  • es ist eine Form der Überlieferung und dient dem Unterrichten der Kinder

Auch die Jagd selbst wird laut Wikipedia als Tanz bezeichnet:

Bis zu 40 Stunden dauert die Verfolgung einer großen Kudu-Antilope bis zu deren Erschöpfung. Bezeichnet wird so eine Ausdauerjagd als „Der Große Tanz”. Ihrem Empfinden nach werden die Jäger eins mit dem Kudu, versetzen sich in das Kudu, ahnen seine Wege voraus und erlegen es zuletzt aus kurzer Distanz mit dem Speer.

Die Verwandlung

“Man mache die Naturvölker erst zu Menschen, dann zu Christen; man bilde sie langsam zu der und durch die Kultur vor, deren höchste Blüthe das Christenthum ja eben sein will. Nicht Wissen und Erkennen, und wäre es der höchsten Weisheit, Thätigkeit vielmehr und selbständiges Bauen des eigenen Lebens gibt dem Menschen erst sittlichen Halt und sittliche Kraft: diese wecke, gestalte, befördere man und man wird das Christentum fördern.” (Dr. Georg Gerland, Über das Aussterben der Naturvölker, Leipzig, 1868)

Was Gerland vor 150 Jahren schrieb, wird seitdem bis heute fleißig umgesetzt. Die Ombili-Foundation hat eine Schule mit Internat gebaut und es sich zur Aufgabe gemacht, die San auf eine “höhere Entwicklungsstufe” zu befördern. Im Jahresbericht der Stiftung heißt es:

“…dass die San in Namibia die ärmste Bevölkerungsgruppe darstellt … Sie ernähren sich nur von dem, was die Natur ihnen gegeben hat … Bei den San bedingt vielfach deren halbnomadische Lebensweise, dass die Kinder mit den Eltern umherwandern und nicht die Schulen besuchen … Traditionell sind die San seit jeher jedem Unterdrückungs­- und Diskriminierungsdruck ausgewichen … Soll ein Umdenken bei den San erreicht werden, d. h. ein Einstellen auf die Anforderungen der heutigen Welt, muss man mit der Schu­lung der Kinder beginnen”

Der heutigen Welt? Wessen heutige Welt? Die San haben Zehntausende von Jahren auf ihre Weise überlebt; ob wir überleben, ist ungewiss. Wer muss sich da auf welche Anforderungen einstellen? Eurozentrismus pur.

Weiter heißt es im Stiftungsbericht:
“Unter der Leitung von Frau Esme van der Merwe ist die Volksschule auch gut vorangegangen. Es herrscht mehr Zufriedenheit und Disziplin.”
Wie diese Zufriedenheit und Disziplin aussieht, zeigt das Video:
http://video.google.com/googleplayer.swf?docId=-5113884390129457723&hl=de

Schön singen die Kinder, nicht wahr? Das klingt melodisch in unseren Ohren.

Was wir als schön und ordentlich empfinden ist: Gleichklang, Gleichschritt, Uniformen.
Aber was sehen wir noch?
Die Kinder sehen traurig aus. Leblos. Ihre Sprache mit den lustigen Klicklauten ist verschwunden. Keine spontane Bewegung. Tot.
Aus Geldmangel kann nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Das war zu Beginn des Kolonialismus auch schon so.

In Afrika sagt man: Die Kinder kehren nach der Ombili-Internatszeit als “Besitzer des Schattens” in ihre Dörfer zurück. Damit ist gemeint, dass sie ohne Antrieb herumsitzen.

Sie haben noch nicht trainiert, eine Rolle zu spielen, zu der Bewegung gehört, aber nicht zuviel, und vor allem ein fröhlicher Gesichtsausdruck mit Lächeln (vgl. Wenn ein Baby zu lächeln beginnt)

Aber die Kinder werden mit der Zeit zivilisierte funktionierende Menschen werden.

Auch Erwachsene werden bei Ombili unterrichtet: Sie lernen “Kunsthandwerk”, z.B. Mobiles anzufertigen und zwar in Arbeitsteilung: Die Frauen schnitzen die Reifen, die Männer die Tiere, die Älteren sammeln die Stöcke, der Nächste schnitzt wieder ein anderes Teil, und so weiter und so fort … die Leiterin kauft den Eingeborenen das Kunsthandwerk ab. Sie betont, dass man den Männern nicht beim Schnitzen helfen muss, “denn die können das viel besser als wir”! Herablassend wie Anno 1868.

Lächelnde, kultivierte Puppen

Hier sind sie nun: Kinder und Jugendliche, wie wir sie lieben.
Elegant, lächelnd, sauber und ordentlich – angepasst eben. Zur Unterhaltung der Erwachsenen.

Unsere Kinder haben nie die Freiheit der San-Kinder erlebt. Deshalb zeigen sie auch keine Trauer oder Verzweiflung. Tiere, die im Zoo geboren wurden, sind auch nicht mehr wild. Unsere Kinder sind daran gewöhnt, und wir sind an den Anblick fremdbestimmter Kinder (und Erwachsener) gewöhnt. Es ist normal. Wenn Einzelne die Anpassung nicht schaffen, werden sie mit medizinischen Ausdrücken etikettiert (Asperger-Syndrom, Hyperaktivität usw.). Die Eltern sind verzweifelt und rennen mit ihnen zum Arzt, der sie mit Medikamenten in den Griff kriegt: ruhig stellt.

Der Dreierschritt der Fremdbestimmung

Als den Dreierschritt bezeichne ich das Muster, das im Patriarchat die Fremdbestimmung möglich macht und vor allem aufrecht erhält. Es ist ein Gewebe, das die gesamte Gesellschaft durchdringt.

A (eine Person oder Gruppe) veranlasst B (eine Person oder Gruppe) C (eine Person oder Gruppe) zufriedenzustellen.

Dreierschritt der Fremdbestimmung

Hier sind ein paar Beispiele:

  • Der Chef veranlasst die Arbeitnehmer zu Handlungen, die die Wünsche der Aktionäre befriedigen. (“Wir müssen Überstunden machen”)
  • Die Theaterleitung veranlasst die Schauspielerinnen zu Handlungen, die das Publikum befriedigen. (Das Gleiche gilt für Sportveranstaltungen.)
  • Die Lehrerinnen veranlassen die Schüler zu Handlungen, die die Eltern befriedigen (oder das Kultusminsterium)
  • Eltern veranlassen ihre Kinder zu Handlungen, die die Großeltern befriedigen. (“Gib der Oma ein Küsschen”)
  • Priester veranlassen die Gläubigen zu Handlungen, die Gott zufrieden stellen. (“Lasst uns beten”)
  • Kollegen veranlassen andere Kollegen zu Handlungen, die die Geschäftsleitung zufrieden stellen. (“Bringen Sie dem Chef einen Kaffee”)
  • Offiziere veranlassen Rekruten zu Handlungen, um den Kriegsminister zufrieden zu stellen. (“Feuern!”)

Der Dreierschritt geht über die einfache Angebot-und-Nachfrage-Befriedigung zwischen zwei Parteien hinaus, weil immer eine oder mehrere Personen (B) dazwischen geschaltet sind, die passiv ausführen, also benutzt werden. Wobei jede Person oder Gruppe A oder B oder C sein kann, je nachdem, um welche Rolle und Beziehung es sich gerade handelt.

In dem Moment, wo Menschen etwas tun, was sie nicht aus eigenem Antrieb tun würden, befinden sie sich auf Position B und man muss nur genau hinschauen, um A und C zu ermitteln.

Nicht alle Handlungsmuster sind so aufgebaut, nur die patriarchalen. Weil es nur in dieser Gesellschaftsstruktur Fremdbestimmung gibt, bedingt durch hierarchische Ebenen, die Dominanz über andere zulassen. Andere Kulturen achten bewusst darauf selbstbestimmt zu leben und Dominanz zu vermeiden.

Sie können einen Test in Ihrem Umfeld machen: Wir haben den Dreierschritt in unterschiedlichen Graduierungen immer dann vorliegen, wenn eine Person der anderen ungefragt Ratschläge gibt, sanften bis starken Druck ausübt oder Befehle erteilt.

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Film (engl.) über die !Kung (Buschmänner) “Vanishing Cultures

Originalartikel: http://rette-sich-wer-kann.com/patriarchat/dreierschritt-der-fremdbestimmung/ – von Hannelore Vonier

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Ergänzende Artikel bei „Rette-sich-wer-kann“:
http://rette-sich-wer-kann.com/patriarchat/die-saharasia-these-oder-wie-das-patriarchat-entstand/

http://rette-sich-wer-kann.com/patriarchat/beschreibung-des-patriarchats-4-worte-reichen/

http://rette-sich-wer-kann.com/series/entstehung-des-patriarchats-und-seiner-merkmale/